VGN Talking Point: Wie sieht unser Leben nach Corona aus?
Ein 100 Nanometer großes Etwas, das zu seiner Vermehrung unsere Zellen befällt, ist die Herausforderung an uns alle – Politik, Gesellschaft und jede/n Einzelne/n –, in Echtzeit gemeinsam komplexe Probleme zu verstehen und zu lösen. Der Schutz von Menschenleben ist aktuell deutlich über die Wirtschaft gestellt. Weitreichende Einschränkungen der persönlichen Freiheit werden akzeptiert, und die Disziplin in der Einhaltung von Maßnahmen ist auffallend. Es bleibt zu hoffen, dass wir bei all den Anstrengungen für die Zukunft unseres Wohlstandsmodells auch etwas lernen.
Wir haben bei unseren ChefredakteurInnen nachgefragt: Mit welchen Verbesserungen oder neuen Regeln soll die Zeit nach Corona gestartet beziehungsweise fortgeführt werden?
Was ich mir für die Zeit nach der Coronakrise (aber eigentlich ab sofort) wünsche:
1. Reduktion aufs Wesentliche
Wir können so viel weglassen – wie manche Meetings oder lange Anfahrtswege. Unserer Produktivität tut das keinen Abbruch – ganz im Gegenteil! Home-Office: nicht immer, aber als sinnvolle Option.
2. Mehr Zusammenhalt
Auch das hat uns die Krise gezeigt: Wir sind soziale Wesen. Allein sind wir machtlos, in der Gruppe stark. Dazu zählt auch: mehr Wertschätzung und bessere Bezahlung für Pflegepersonal und KassiererInnen. Und: mehr Respekt gegenüber Lehrpersonal, mehr Einbindung älterer Menschen ins gesellschaftliche Leben.
3. Nix gibt’s nicht
Einer der großen Verlierer der Krise ist das Wort „unmöglich“. Das Virus hat gezeigt, dass es möglich ist, in kurzer Zeit Krankenstationen zu errichten, Betriebe auf Home-Office umzustellen oder den Flugverkehr lahmzulegen. Für „Das geht nicht“ braucht es künftig gute Argumente. Fragen wir uns: Was wollen wir? Wo ein Wille, da ein Weg.
4. Mehr Eigenverantwortung
Wollen wir uns (vom Staat) vorschreiben lassen, wie wir leben sollen? Übernehmen wir selbst mehr Verantwortung für unsere Gesundheit, für unsere Projekte, für unsere Beziehungen! Wir sollten uns trauen, Entscheidungen zu treffen und mit den Konsequenzen zu leben. Einzige Bedingung: Niemand anderer darf durch unser Handeln Schaden nehmen.
5. Die Sache zählt
Hinterfragen wir alte Strukturen wie den „9 to 5“-Job! Dieses Modell ist abgelaufen. Fixe Arbeitszeiten sind gerade in Kreativberufen lähmend. Die Freiheit und Verantwortung möglichst freier Zeiteinteilung sollten nicht nur Führungskräfte in Anspruch nehmen, sondern auch ihren Mitarbeitern ermöglichen. Wer selbst über seine Zeit und Energie bestimmen kann, liefert bessere Ergebnisse. Und dafür arbeiten wir doch, nicht wahr?
Der durch das Coronavirus verursachte Shutdown der Lebensweise, wie wir sie bisher kannten, hat unter anderem zu zwei besonderen Veränderungen in der Berufswelt und im sozialen Umgang geführt. Das hierzulande von Unternehmern und Beschäftigten oft belächelte Home-Office ist quasi über Nacht für Hunderttausende zum vollwertigen und effizienten Arbeitsplatz avanciert. Dieses alternative Arbeitsmodell sollte – zumindest als Option – auch nach Corona beibehalten werden. Durch den Wegfall von Fahrten ins Büro und retour hat man mehr vom Tag, spart Fahrtkosten und handelt proaktiv in puncto CO2-Reduktion. Unternehmen wiederum könnten durch mehr Home-Office-Mitarbeiter etwa die Ausgaben für Büroräume & -ausstattung senken, um nur einen Vorteil zu nennen.
Die zweite Besonderheit, die die Coronakrise hervorgebracht hat, ist ein „Back to Basics“, wenn es um Kommunikation und soziale Beziehungen geht. Welche unumstrittenen Vorteile uns die Digitalisierung auch gebracht hat, sie hat auch dazu beigetragen, dass wir uns auf eine spezifische Art und Weise von unseren Mitmenschen entfremden. Textnachricht statt Anruf, E-Mail statt persönliches Gespräch, Emojis statt Wörtern und ständig das Smartphone in Händen – egal, ob im Job, in der Schule oder in der Freizeit. Die partielle Isolation, in der wir uns aktuell befinden, hat bei vielen ein Umdenken bewirkt. In meinem Bekanntenkreis suchen selbst die als unbekehrbar geltenden Chatter & Simser vermehrt das „echte“ Gespräch und rufen an, statt zu tippen. Eingefleischte „Onliner“ greifen vermehrt zu Büchern oder Magazinen auf Papier, und in Familien und Wohngemeinschaften erfahren analoge Gesellschaftsspiele eine wahre Renaissance. Wenn dann die Ausgangsbeschränkungen fallen, sollten wir uns vom jetzt erforderlichen (aber schon vor Corona präsenten) Social Distancing abwenden, indem wir Handy & Laptop öfter und gezielt abschalten und mehr Zeit mit Familie und Freunden verbringen.
Der Sigmund-Freud-Schüler Alfred Adler definierte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Menschen als soziales Wesen, das den Austausch mit anderen Menschen braucht – und der findet gewiss nicht nur digital oder in sozialen Medien statt.